«Wir streben an, dass blinde Menschen sehen können»

03.11.2020

Prof. Hendrik Scholl und Prof. Botond Roska leiten zusammen das Institut für molekulare und klinische Ophthalmologie Basel (IOB). Ihre Forschung beschleunigt die Entwicklung von Therapien für Augenerkrankungen.

Herr Roska und Herr Scholl, Ihrem Forschungsteam ist es kürzlich gelungen, exakte Nachbildungen menschlicher Netzhaut zu züchten. Was bedeutet das für die Augenheilkunde?

B. Roska: Bisher wurden Tiermodelle für die therapeutische Forschung von Krankheiten verwendet. Nun können wir dank der künstlichen menschlichen Netzhaut Therapien direkt an einem menschlichen Modell testen. Wir können praktisch für jeden Patienten und jede Patientin eine funktionsfähige Netzhaut erstellen, die eine Schichtstruktur aufweist und auf Licht reagiert. Es wurde zwar schon vorher versucht, eine funktionsfähige menschliche Netzhaut künstlich zu erzeugen, wir am IOB waren aber die ersten, denen das gelungen ist.

H. Scholl: Nach diesem Meilenstein der Forschung können wir nun Therapien schneller entwickeln. Da dieses sogenannte Retinoid das Zielgewebe für die Therapie am Menschen darstellt, können wir auf Tierversuche weitestgehend verzichten. Mittlerweile können wir auch grosse Mengen an diesen Retinoiden produzieren, für einen industriellen Massstab haben wir aber nicht genug Kapazitäten. Wir müssen uns nun überlegen, wie wir Robotik und künstliche Intelligenz einsetzen können, um die Produktion hochzuskalieren.

Welche Vision verfolgen Sie am IOB?

H. Scholl: Unser Institut arbeitet translational, also entlang der ganzen Entwicklungskette, von der Molekular- und Zellbiologie über die Humangenetik bis hin zu klinischen Tests. Wir sind eines der wenigen Institute auf der Welt, dem eine intensive Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung und Klinik gelingt. So erfahren die einen, wo tatsächlicher Bedarf an Neuerungen im klinischen Alltag besteht, und die anderen lernen neueste Technologien und wissenschaftliche Ergebnisse aus der Grundlagenforschung kennen, die sich für Entwicklungen von solchen Neuerungen eignen könnten. Das ist zentral für innovative Therapien.
B. Roska: In den nächsten fünf bis zehn Jahren möchten wir möglichst viele innovative Gentherapie-Entwicklungen in die klinische Phase bringen. Zunächst konzentrieren wir uns auf Gentherapie-Studien für seltenere Krankheiten. Dann stehen bei uns aber auch die grossen Augenkrankheiten wie die Makuladegeneration, das Glaukom und die Kurzsichtigkeit im Fokus. Von ihnen sind weltweit fast eine Milliarde Menschen betroffen, und es gibt im Wesentlichen noch keine Therapien.

Womit beschäftigen Sie sich aktuell?

H. Scholl: Wir haben zwei Programme, die schon weit fortgeschritten sind und voraussichtlich in rund zwei Jahren klinisch erprobt werden. Zum einen handelt es sich dabei um die optogenetische Wiederherstellung des Sehvermögens, eine vielversprechende Technologie, die Botond Roska entwickelt hat. Diese soll bei vollständiger Erblindung künstliche Lichtempfindlichkeit erzeugen. Wir streben damit an, dass vollständig erblindete Menschen wieder sehen können. Das andere Thema sind Genveränderungen bei der juvenilen Makuladegeneration, einer Erbkrankheit. Wir beabsichtigen, den häufigsten Gendefekt zu korrigieren und somit die Erkrankung zu behandeln.

Hendrik Scholl (rechts) und Botond Roska (links) bringen die Augenforschung vorwärts.

Wie kam es 2017 zur Gründung Ihres Instituts?

B. Roska: Vor der Gründung des IOB arbeitete ich am Friedrich Miescher Institut in Basel und träumte davon, translationale Wissenschaften zu betreiben. Uns fehlte aber noch jemand, der in unserer Kooperation den klinischen Teil führen sollte. Bevor Hendrik Scholl nach Basel kam, um mit mir das Institut zu leiten, war er Professor in den USA an der Johns Hopkins University, die das grösste akademische Institut für Augenheilkunde in der Welt betreibt. Wir hatten grosses Glück, dass er sich entschied, in Basel zu arbeiten. Es folgten Diskussionen mit Jörg Reinhardt, dem Verwaltungsratspräsident von Novartis, und die Idee für das IOB entstand. Die Universität Basel, Novartis und das Universitätsspital Basel gründeten dann gemeinsam das IOB.
H. Scholl: Als ich hierherkam, war alles sehr gut vorbereitet. Die herausragende Forschung, die hier schon vorher von Botond Roska geleistet wurde, ermöglichte uns einen optimalen Start. Wir hatten auch Glück, dass unsere drei Gründer und auch der Kanton Basel-Stadt uns von Anfang an stark förderten.

Ist Basel ein guter Ort für Innovation in Ihrem Bereich?

B. Roska: Ja, auf jeden Fall. Basel ist eine der grössten Drehscheiben für biomedizinische Wissenschaften. Innovation braucht aus meiner Sicht zwei Zutaten: Innovatoren und Stabilität. Die Schweiz ist extrem gut in der Stabilität, und deshalb ist hier Innovation in sehr hoher Qualität möglich.

H. Scholl: Die Schweiz ist in einer starken Position, aber sie darf sich nicht darauf ausruhen. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass Innovatoren mit ihren Ideen durchkommen oder dass sie diese in etwas Greifbares verwandeln können. Das braucht ständigen Einsatz.

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