«Es geht jetzt um eine Weiterführung des bestehenden Erfolgsmodells»

03.09.2019

Die Schweiz steht europapolitisch an einem Scheideweg. Fast 30 Jahre nach dem EWR-Nein droht der bewährte bilaterale Weg zu erodieren. Was bringen uns die bilateralen Abkommen wirklich und weshalb sollen wir diese nun weiterentwickeln? In unserem grossen Interview geben zwei prominente Europaexpertinnen Antworten zu diesen und weiteren Fragen.

Elisabeth Schneider-Schneiter, Nationalrätin und Präsidentin der Handelskammer beider Basel, im Gespräch mit Prof. Dr. Christa Tobler, Professorin für Europarecht am Europainstitut der Universität Basel. Das Gespräch leitete Gabriel Schweizer, Leiter Aussenwirtschaft der Handelskammer.

Wie wichtig ist die EU für unsere Region? Können wir die EU nicht durch andere, wachsende Märkte ersetzen?

Elisabeth Schneider-Schneiter (ESS): Die EU ist die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz und ganz speziell auch unserer Grenzregion. Wir setzen in Baden-Württemberg und in Bayern doppelt so viel um wie beispielsweise in China. Andere Märkte sind natürlich auch wichtig, deshalb fordern wir auch eine aktive Freihandelspolitik mit dem Ausbau von bestehenden und dem Abschluss von neuen Abkommen wie beispielsweise jenes mit der USA. Aber diese ersetzen uns nie den europäischen Markt.

Christa Tobler (CT): Unsere Wirtschaftsbeziehungen zur EU basieren heute nicht nur auf dem Freihandel mit Waren, sondern zum Beispiel auch auf der Personenfreizügigkeit und auf vielen Abkommen zu weiteren Themen. Das alles geht weit über klassische internationale Handelsabkommen hinaus.

Ist es nicht so, dass vor allem Grossunternehmen von den Beziehungen zur EU profitieren?

ESS: In erster Linie profitiert die exportorientierte Industrie. Neue Zahlen zeigen, dass 50 Prozent aller Exporte von KMU ausgehen. Vergessen geht übrigens auch immer wieder, dass viele Gewerbebetriebe als Zulieferer ebenfalls vom Export abhängig sind. Die enge wirtschaftliche Verflechtung mit der EU generiert eine intensive Wertschöpfungskette quer durch die ganze Wirtschaft.

Nun gibt es die bilateralen Abkommen, die gut funktioniert haben. Warum braucht es noch einen weiteren Schritt der Institutionalisierung?

CT: In rechtlichen Abkommen gibt es immer zwei Seiten: Es gibt die inhaltliche Seite, also zum Beispiel was heisst freier Personenverkehr oder freier Warenverkehr. Und dann gibt es die institutionelle Seite, bei der es darum geht, wie ein Abkommen funktioniert – sozusagen die Spielregeln. Das bilaterale Recht ist über viele Jahrzehnte entstanden. Die einzelnen Abkommen haben zum Teil nur rudimentäre und teilweise unterschiedliche institutionelle Regelungen. Es ist ein unübersichtliches System. Die EU ihrerseits hat einen Binnenmarkt mit einem klaren institutionellen System geschaffen, das insgesamt sehr gut funktioniert. Sie begann, darüber hinaus auch mit gewissen Nichtmitgliedsländern Binnenmarkt-Abkommen zu schliessen. So entstand der Europäische Wirtschaftsraum (EWR), der die Binnenmarktregeln der EU auf weitere Länder ausgedehnt hat. Heute sind dies unser Nachbar Liechtenstein sowie Island und Norwegen. Auch der EWR hat einen klaren institutionellen Rahmen. Die Schweiz macht bekanntlich beim EWR nicht mit. Durch die bilateralen Abkommen hat aber auch sie in gewissen Bereichen Zugang zu diesem erweiterten Binnenmarkt. Nur: Die institutionelle Seite unserer bilateralen Abkommen hat sich nicht an dieses veränderte Umfeld angepasst.

ESS: Heute müssen wir bei jeder Änderung eines Abkommens, aber auch bei neuen Abkommen den Prozess einzeln festlegen. Ein institutioneller Rahmen, würde diese Prozesse definieren, was Rechtssicherheit und Stabilität für die Weiterentwicklung des bilateralen Weges bedeuten würde. Geregelt würde aber auch das Verfahren, wenn sich die EU und die Schweiz bezüglich Auslegung eines Abkommens einmal nicht einig sind. Profitieren würden übrigens beide Seiten.

«Die EU ist die wichtigste Handlungspartnerin der Schweiz und ganz speziell auch unserer Grenzregion.» Christa Tobler und Elisabeth Schneider-Schneiter im Gespräch mit Gabriel Schweizer.

Das Rahmenabkommen verzögert sich. Was bedeutet das für die Schweiz, wenn es nicht bald abgeschlossen wird?

CT: Kurzfristig heisst dies beispielsweise, dass das Stromabkommen immer noch nicht abgeschlossen werden kann. Weiter dürfte das Konformitätsbewertungs-Abkommen nicht mehr modernisiert werden. Dieses betrifft zurzeit die Medizinprodukte, und die fehlende Anpassung würde vor allem für der Standort Basel grosse Nachteile mit sich bringen. Schliesslich wird die EU ab 2021 ein neues Forschungsprogramm haben. Da könnten wir dann wohl nicht mehr voll teilnehmen. Für ein forschungsstarkes Land wie die Schweiz wäre das schwerwiegend.

ESS: Wir müssen in Kauf nehmen, dass der bilaterale Weg erodiert und wir mittelfristig den Zugang zum europäischen Binnenmarkt verlieren. Die langfristigen Folgen sind nicht abzuschätzen. Der Schweizer Wirtschaft wird der europäische Markt mit seinen 500 Mio. Einwohnern aber sicher mehr fehlen, als dass das umgekehrt der Fall sein wird.

Nächstes Jahr steht die Kündigungsinitiative an, welche die Personenfreizügigkeit aufheben möchte. Was bringt uns die Personenfreizügigkeit?

ESS: Die Personenfreizügigkeit sorgt dafür, dass alle Unternehmen in unserem Land einen optimalen Zugang zu jenen Fachkräften haben, welche sie benötigen. Leider können viele Betriebe ihre Mitarbeitenden nicht mehr nur aus der Schweiz rekrutieren. Gerade im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik fehlen Menschen, welche diese Kompetenzen beherrschen. Die Personenfreizügigkeit garantiert uns aber auch immer mehr Personal im Bereich der Bauwirtschaft, der Pflege, der Gastronomie und Hotellerie.

CT: Neben der wirtschaftlichen Perspektive gibt es auch noch eine andere: Wir als Individuen, also die Menschen, erhalten durch die Personenfreizügigkeit viele Möglichkeiten, die sonst nicht so leicht zugänglich wären. Wir können zum Beispiel vergleichsweise leicht im Ausland studieren oder arbeiten.

Was passiert nächstes Jahr, falls die Kündigungsinitiative angenommen wird?

CT: Man müsste zuerst versuchen, das Personenfreizügigkeitsabkommen neu zu verhandeln – was ich als illusorisch erachte. Nehmen wir an, es käme dann tatsächlich soweit und die Personenfreizügigkeit würde gekündigt, dann hätten wir rein rechtlich die berühmte Guillotine-Klausel. Wenn man eines der Abkommen kündigt, fallen sechs Monate später die anderen Abkommen des gleichen Pakets ebenfalls weg, und zwar automatisch. Dann hätten wir sehr wichtige Abkommen nicht mehr, unter anderem das Landverkehrsabkommen, das Luftverkehrsabkommen und das Konformitäts-Abkommen. Und ich halte die Annahme, die EU werde es dann schon nicht soweit kommen lassen, als unrealistisch. Ich hoffe sehr, wir kommen gar nicht erst in diese Situation.

ESS: Die Schweizer Stimmbevölkerung hat den bilateralen Weg in den letzten Jahren immer wieder bestätigt. Wenn wir ihr aufzeigen können, wie zentral die Personenfreizügigkeit für die Menschen in unserem Land ist, dann wird die Initiative nicht erfolgreich sein. Es braucht viel Aufklärungsarbeit und auch die Auseinandersetzung mit den negativen Auswirkungen von Zuwanderung. Die Handelskammer beider Basel nimmt diese Aufgabe zusammen mit der Wirtschaft ernst und erachtet sie als eines der zentralen aktuellen Dossiers.

Gegner sehen die EU als eine Fehlkonstruktion, als ein temporäres Phänomen. Die Schweiz würde sich an ein sinkendes Schiff anhängen.

ESS: Wir nehmen seit vielen Jahrzehnten erfolgreich am europäischen Binnenmarkt teil. Die Bilateralen Verträge sichern uns eine intensive Zusammenarbeit mit der EU in vielen anderen Bereichen. Die EU mag heute viele Baustellen haben. Für die Schweiz als kleine Insel innerhalb Europas bedeutet sie aber Stabilität. Wir dürfen kein Interesse am Auseinanderfallen der EU haben.

CT: In einer vernetzten Welt ist es meiner Meinung nach einfach nicht realistisch, vollständig unabhängig zu bleiben. Da müssen wir pragmatisch sein. Es geht einmal mehr um das pragmatisch-rationale Abwägen, wenn man das Gesamtbild anschaut. Und das Gesamtbild unseres Verhältnisses zur EU ist nach meiner Einschätzung klar positiv.

Die EWR-Abstimmung ist bald 30 Jahre her. Die EU und die Schweiz unterscheiden sich in einigen Fragen fundamental. Gibt es irgendwann einen Punkt, an dem die Europapolitik auf einer stabilen Basis steht?

CT: Wir unterscheiden uns mit unserem politischen System nicht nur von den EU-Staaten, sondern auch von der übrigen Welt. Unsere halbdirekte Demokratie ist ein Erfolgsmodell. Die EU hat unser System übrigens immer akzeptiert. Das bilaterale Recht entwickelt sich auch vor diesem Hintergrund.

ESS: Wir haben dem Stimmvolk in der Vergangenheit immer aufzeigen können, worin der Vorteil in der Zusammenarbeit mit der EU liegt. Die bilateralen Verträge haben eine riesengrosse Akzeptanz in der Bevölkerung. Es geht jetzt um eine Weiterführung des bestehenden Erfolgsmodells. Ich bin überzeugt, dass wir dieses Abkommen packen, ohne unsere Souveränität zu beeinträchtigen.

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