«Auf den Autobahnen waren die Auswirkungen des Lockdowns deutlich zu sehen»

12.05.2020

Jürg Röthlisberger, Direktor des Bundesamts für Strassen (ASTRA), über die Auswirkungen des Lockdowns auf die Verkehrsinfrastruktur und warum das Auto auch zukünftig einen wichtigen Platz in unserer Mobilität haben wird.

Herr Röthlisberger, vor der Corona-Krise waren unsere Autobahnen und Züge zu den Stosszeiten voll bis überfüllt. Das änderte sich schlagartig, als Firmen anfingen ihre Mitarbeiter ins Home-Office zu schicken. Wie entwickelte sich die Situation auf den Autobahnen während der Pandemie?

Auf den Autobahnen waren die Auswirkungen des Lockdowns deutlich zu sehen: In Basel beispielsweise hatten wir im März und April auf der Schwarzwaldbrücke eine Verkehrsreduktion zwischen 40 und 80 Prozent; am Gotthard hatten wir sogar bis zu 90 Prozent weniger Verkehr. Aber in den Agglomerationen bemerkten wir auch eine Verlagerung vom öffentlichen Verkehr hin zum Auto. Zudem gewann der Langsamverkehr an Bedeutung, da viele Leute aufs Velo stiegen, statt mit Tram oder Bus zur Arbeit zu fahren.

Können Sie abschätzen, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf die wichtigen Strassenprojekte in der Region Basel – insbesondere den 8-Spur-Ausbau zwischen Hagnau und Augst sowie den Rheintunnel – haben wird?

Die Corona-Krise hat kaum Auswirkungen auf diese Projekte. Unser Ziel war und ist es, die vom Parlament gesprochenen Investitionen in die Nationalstrassen auf dem bisherigen, hohen Niveau weiterführen zu können. Das entspricht auch den Erwartungshaltungen von Bundesrat, Parlament, Industrie und Kundschaft. Entsprechend haben wir unsere Baustellen und Projekte während dem Lockdown weitergeführt – mit Ausnahme der Baustellen im Tessin.

Die aktuelle Situation zeigt: Der öffentliche Verkehr ist in seiner heutigen Form insgesamt nicht pandemietauglich. Das Auto als individuelles Verkehrsmittel hingegen schon. Müsste man diese Tatsache nicht stärker in den Mobilitätskonzepten berücksichtigen, die in erster Linie auf den öffentlichen Verkehr setzen?

Wer hätte vor Corona gedacht, dass unsere Behörden eines Tages empfehlen müssen, den öffentlchen Verkehr oder das Flugzeug temporär zu meiden? Dies stelle ich ohne jede Häme fest, denn das Ausspielen der Verkehrsträger und Mobilitätsformen gegeneinander sollten wir definitiv den Ewiggestrigen überlassen. Wir brauchen jeden Verkehrsträger und alle Mobilitätsformen. Wir sollten sie dort einsetzen, wo sie ihre spezifischen Stärken haben und wir müssen ihre jeweilige Sicherheit, Verträglichkeit und Kostenstruktur laufend verbessern. Der Lockdown hat uns ganz grundsätzlich den Wert der Mobilität oder besser gesagt, die Folgen fehlender Mobilität vor Augen geführt. Ich hoffe sehr, dass dieses Bewusstsein bei künftigen Vorhaben – ob Strasse, Schiene, Luft oder Wasserwege – einfliesst. Denn wenn das Adjektiv «systemrelevant» jemals wirklich vollständig zutrifft, dann auf die Mobilität, auf dieses Grundbedürfnis jeder offenen Gesellschaft.

Die Geschichte des Autos scheint für viele eine Art Hass-Liebe zu sein: Mal ist das Auto «böse», dann wieder «gut». Wird die Corona-Krise helfen, das angeschlagene Image des Autos wieder nachhaltig zu verbessern?

Dieses Auf und Ab, diese Ambivalenz, gehörte schon immer zur Geschichte des Automobils, gerade auch in der Schweiz. Man erinnere sich nur an die frühen kantonalen Fahrverbote. In der Summe hat das Automobil nichts von seiner ursprünglichen Attraktivität eingebüsst, weil es in seiner Geschichte immer wieder in der Lage war, sich neu zu erfinden, sich den geänderten Kundenbedürfnissen und den geänderten gesellschaftlichen Werten anzupassen. Das spricht für die extrem hohe Dynamik und die Innovationskraft der Industrie und es spricht dafür, dass wir diesen Weg weiterhin konsequent gehen sollten. Digitalisierung und Entkarbonisierung der Antriebe sind zwei aktuelle Megatrends, die das Automobil einmal mehr massiv verändern, mithin verbessern und uns neue, effizientere Nutzungsformen erschliessen werden. Genau deshalb wird das Auto auch künftig seinen wesentlichen Platz in unserer Mobilität haben. Und wohl auch deshalb, weil es auch künftig erlaubt sein wird, sich an den schönen und angenehmen Dingen des Lebens zu erfreuen. So hoffe ich wenigstens.

Jürg Röthlisberger: «In der Summe hat das Automobil nichts von seiner ursprünglichen Attraktivität eingebüsst.»
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