«Die Schweizer Netzstabilität kann mittelfristig nur im europäischen Kontext gewährleistet werden.»

01.02.2022

Was bedeutet der Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der Europäischen Union für die Versorgungssicherheit der Schweiz mit Strom? Dazu Dr. Bastian Schwark, Head of Market Operations bei der Swissgrid AG im Gespräch mit Dr. Sebastian Deininger, Leiter Verkehr, Raumplanung, Energie und Umwelt bei der Handelskammer beider Basel.

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS sieht einen Stromausfall und eine Strommangellage als grosse Risiken für die Schweiz an. Letztere sogar als grösstes Risiko überhaupt, noch vor einer Influenza-Pandemie. Können Sie uns den genauen Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen erläutern und auch, wie diese Risiken heute gemanagt werden?

Ein Stromausfall oder Blackout ist eine Verkettung unglücklicher Umstände und passiert in Echtzeit, ohne Vorwarnung. Ein Stromausfall kann entweder lokal im Verteilnetz oder in einer grösseren Region auftreten. In jedem Fall greifen eingespielte Prozesse zwischen den Akteuren, um die Stromversorgung in möglichst kurzer Zeit wieder aufzubauen. Swissgrid hat hierzu Kraftwerke zur Schwarzstart- und Inselbetriebsfähigkeit unter Vertrag, welche sich an diesem Netzwiederaufbauprozess beteiligen. Swissgrid steht hierzu mit den Übertragungsnetzbetreibern der Nachbarstaaten sowie der schweizerischen Strombranche in engem Austausch und beübt solche Prozesse regelmässig.

Eine Strommangellage hingegen ist vorhersehbar mit einer Vorlaufzeit von einigen Wochen oder gar Monaten. Es handelt sich dabei um ein Ungleichgewicht von Stromangebot und
-nachfrage, welche erwartungsgemäss eher im Winterzeitraum auftreten würden. Strom ist somit zwar verfügbar, aber in reduziertem Mass (z.B. aufgrund sehr eingeschränkter Verfügbarkeiten von Kraftwerken im In- und Ausland bei einer gleichzeitig lang andauernden aussergewöhnlichen Kältewelle). In einer solchen strukturellen Mangellage setzt die Organisation für Stromversorgung in ausserordentlichen Lagen OSTRAL die vom Bundesrat angeordneten Massnahmen wie Angebots- und Verbrauchslenkung um. Swissgrid ist in dieser Organisation vertreten und würde sich u.a. im Eintretensfall um die zentrale und effiziente Bewirtschaftung der Kraftwerke kümmern.

Ein Stromabkommen mit der Europäischen Union ist mit dem Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen im vergangenen Mai in weite Ferne gerückt. Was bedeutet dies für den Alltag bei Swissgrid?

Konkret bedeutet dies für Swissgrid zunehmender Ausschluss aus den europäischen Netzsicherheitskooperationen, zunehmender Systemstress und abnehmende Importfähigkeit.

Grundsätzlich ist die Schweiz ohne Stromabkommen vom Europäischen Energiebinnenmarkt ausgeschlossen. Der Ausschluss der Teilnahme an der EU-Marktkopplung für den Day-Ahead- und den Intraday-Handel bedeutet einerseits Nachtteile für die Schweizerischen Produzenten und Händler. Zum anderen ergeben sich negative Auswirkungen auf den Netzbetrieb. Ungeplante Lastflüsse durch die Schweiz gefährden zunehmend die Netzstabilität und Swissgrid muss Strom - vor allem aus Wasserkraft - für die Stabilisierung des Netzes einsetzen.

Die Intensität der Herausforderungen für die Netzsicherheit wird voraussichtlich bis 2025 stark zunehmen. Die weitere Optimierung der flussbasierten Marktkopplung in der EU sowie deren geographische Erweiterung in Osteuropa in den kommenden Jahren werden für das Schweizer Übertragungsnetz Herausforderungen darstellen. Mit der vollständigen Umsetzung der sogenannten 70%-Regel ist eine Zunahme des Handels innerhalb der EU zu erwarten. Hierdurch werden die Übertragungsnetzbetreiber verpflichtet, mindestens 70% der Auslastung von kritischen Elementen dem Handel zur Verfügung zu stellen. Solange die Schweiz nicht adäquat in die dazu notwendigen Netzkapazitätsberechnungsprozesse einbezogen wird, ist eine massive Zunahme ungeplanter Stromflüsse durch die Schweiz zu erwarten. Das hat negative Auswirkungen auf die Netzstabilität und auf die Importfähigkeit im Winterhalbjahr.

Swissgrid ist mit der Unterzeichnung eines privatrechtlichen Vertrages mit der Kapazitätsberechnungsregion «Italy North» im Dezember 2021 zwar ein wichtiger Meilenstein gelungen, um die Position der Schweiz zumindest an der Südgrenze zu verbessern. Die Probleme, die sich für Swissgrid aufgrund des fehlenden Stromabkommens ergeben, sind damit aber nicht gelöst. Wir sind auf eine politische bzw. zwischenstaatliche Lösung angewiesen, denn nur eine solche schafft einen stabilen Rahmen für eine langfristig gesicherte Zusammenarbeit mit der EU und damit für eine hohe Versorgungssicherheit in der Schweiz.

Ist ein Stromabkommen mit der EU alternativlos und wenn ja, warum? Profitiert nicht auch die EU von einem geregelten Verhältnis mit der Schweiz beim Strom?

Die Schweizer Netzstabilität kann mittelfristig nur im europäischen Kontext gewährleistet werden. Die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und ihren Netzbetreibern ist daher essenziell für die Versorgungssicherheit und die Netzsicherheit in der Schweiz. Swissgrid engagiert sich weiterhin stark, um auf technischer Ebene mit den europäischen Partnern zusammenarbeiten zu können. Privatrechtliche Verträge können jedoch nicht die ganze Problematik des fehlenden Stromabkommens wettmachen. Ein Stromabkommen ist zwar in absehbarer Zeit wohl eher unrealistisch, aber es wäre nach wie vor die effizienteste und wirksamste Lösung für die Schweiz.

Auch die EU kann von einem Stromabkommen mit der Schweiz profitieren – zumindest die Mitgliedstaaten, die eine Landesgrenze mit der Schweiz teilen. Die Schweiz ist ein zentraler Teil des europäischen Verbundnetzes und verbindet den Norden mit dem Süden Europas. Die Alpen agieren gleichzeitig als Energiespeicher für die Region. Doch die Bedeutung der Schweiz für Europa nimmt ab. Der italienische Übertragungsnetzbetreiber Terna hat bereits zahlreiche Kabelverbindungen um die Schweiz herum gebaut und plant weitere Interkonnektoren nach Tunesien sowie von Süd- nach Norditalien. Dies wird die Abhängigkeit Italiens von Transitflüssen durch die Schweiz in den kommenden Jahren reduzieren. Länder wie Norwegen wiederum haben das Potenzial der Wasserkraft erkannt und bauen neue Produktionskapazitäten und Leitungen. Die Bedeutung der Schweiz als Stromtransitland oder gar als «Wasserschloss Europas» nimmt somit laufend ab.

Swissgrid darf gemäss aktuellem Standpunkt der EU-Kommission nicht an den drei grossen europäischen Plattformen für den Austausch und Handel mit Regelenergie – PICASSO, MARI und TERRE – teilnehmen. Dagegen haben Sie beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) Klage eingereicht. Die beiden erstgenannten Plattformen sollen bereits im zweiten Quartal 2022 starten. Welche Konsequenzen hätte es, wenn der EuGH nicht in Ihrem Sinne entscheiden würde?

Aktuell nimmt Swissgrid noch Teil an der Plattform für Tertiärregelenergie TERRE. Bei einem Entscheid zu Ungunsten von Swissgrid würden wir von der TERRE-Plattform ausgeschlossen. Das würde bedeuten, dass Swissgrid nur noch sehr kurzfristig, circa 15 Minuten vorher, Kenntnis erhielte von grenzüberschreitenden Lastflüssen, die aus dem Handel über die TERRE-Plattform resultieren. Das hätte Auswirkungen auf die Netzsicherheit in der Schweiz und könnte die Systemsicherheit in der Region gefährden.

Weiter würde ein negatives Urteil vermutlich auch den Ausschluss aus den Plattformen PICASSO und MARI bedeuten. Die Herausforderungen würden damit noch weiter zunehmen.

Als nationale Netzbetreiberin kümmern Sie sich um die Infrastruktur. Wie blicken Sie aus dieser Perspektive auf Vorschläge aus der Politik, die Energieversorgung der Schweiz autarker zu gestalten?

Swissgrid begrüsst die aktuelle Diskussion um die Versorgungssicherheit. Sämtliche Massnahmen zum Erhalt und zum Ausbau der inländischen Produktion mindern ein allfälliges strukturelles Energiedefizit. Dabei sind Anreize zum Ausbau von Produktionskapazitäten im Winterhalbjahr stark zu gewichten, da die Schweiz insbesondere während der Wintermonate weniger Strom produziert als sie verbraucht. Der Autarkiegrad muss gesteigert werden, aber eine vollständig stromautarke Schweiz ist eine Illusion und weder technisch möglich noch volkswirtschaftlich sinnvoll.

Um die Versorgungssicherheit der Schweiz mittel- und langfristig zu gewährleisten, braucht es neben der inländischen Produktion ein stabiles Netz und eben auch die Kooperation mit den europäischen Partnern. Das europäische Verbundnetz garantiert eine sichere Stromversorgung, denn dank internationaler Zusammenarbeit ist es möglich, Erzeugungsengpässe oder Überproduktion zu kompensieren.

Nun zur Gretchenfrage: Wie schätzen Sie die Versorgungssicherheit der Schweiz beim Strom heute ein?

Die Schweiz verfügt aktuell über ein sicher betriebenes Netz und eine angemessene Versorgungssicherheit. Aber die Beibehaltung des Status Quo und «Business as usual» ist kein Lösungsansatz für die Zukunft. Wir stehen vor grossen Herausforderungen, die wir jetzt angehen müssen.

Die Gewährleistung der Versorgungssicherheit in der Schweiz ist eine Aufgabe, die auf verschiedene Ebenen und diverse Akteure verteilt ist. Nur in enger Zusammenarbeit können die künftigen Anforderungen erfüllt werden. Bisher geplante Massnahmen reichen möglicherweise nicht aus. Es braucht ein neues Denken in Alternativen, die wir bisher nicht in den Blick genommen haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

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