Die Inflation nicht aus dem Ruder laufen lassen
Prof. Dr. Sarah Lein, Professorin für Makroökonomie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel, erklärt, wie sich die Inflation steuern lässt und wen sie am meisten trifft.
Frau Lein, was befeuert die aktuelle Inflation in der Schweiz?
In der Schweiz findet die Inflation vor allem bei den Waren statt. Wir erleben immer noch Nachwehen der Pandemie, die sich vor allem in Lieferengpässen zeigen. Viele Zwischenprodukte fehlen Firmen in ihren Produktionen ganz oder sind nur zu deutlich höheren Preisen verfügbar. Der daraus entstandene Engpass an Waren führt zu Preissteigerungen. Getrieben durch den Krieg in der Ukraine steigen aber auch die Rohstoffpreise, im Vergleich zum Vorjahr sind sie in der Schweiz um etwa 30 Prozent höher. Bisher haben wir diese Teuerung noch nicht so sehr bemerkt, aber wir werden sie deutlicher spüren, wenn wir im Herbst wieder anfangen zu heizen.
Gibt es Unterschiede zum Ausland?
In der Schweiz sind Dienstleistungen zum Glück bisher kaum von der Teuerung betroffen, im Gegensatz zu anderen Ländern. Bei uns ist die Inflation mit 3,4 Prozent im Juli 2022 auch nicht so hoch wie in den USA oder in der EU. Wir sehen auch, dass sich im Juli im Vergleich zum Vormonat die Inflation in der Schweiz nicht weiter gesteigert hat. Das sind vorsichtig positive Zeichen, und wir müssen abwarten, ob es nur ein Sommerloch oder eine Trendwende ist.
Wen trifft die Inflation am meisten?
Unternehmen, die viel Energie für ihre Produktion verwenden, spüren das stark bei ihren Kosten. Entscheidend wird es auch im Herbst, wenn viele Löhne für das nächste Jahr festgelegt werden. Denn steigende Löhne sind auch eine wichtige Kostenkomponente für Unternehmen. Bei den privaten Haushalten werden sicherlich diejenigen stärker betroffen sein, die sehr viel heizen müssen, weil sie schlecht isolierte Wohnungen oder Häuser haben. Das sind eher Haushalte mit tieferen Einkommen.
Weshalb trifft es sie so stark?
Weil sie noch eher Öl- oder Gasheizungen haben und rund einen Drittel ihrer Einnahmen für Wohn- und Energiekosten ausgeben. Deshalb sind sie den Preissteigerungen stärker ausgesetzt als besser Verdienende. Beim Wohnen und Heizen kann man zwar etwas den Verbrauch einschränken, aber einfach kurz aus der Wohnung auszuziehen oder eine neue Heizung zu installieren ist für die meisten keine Option. Das heisst, diese Ausgaben können nicht ohne weiteres durch günstigere Alternativen substituiert werden. Wenn dann in der kalten Jahreszeit zum Energiebedarf der Industrie die steigende Nachfrage der Privathaushalte dazukommt, wird die Teuerung noch deutlicher spürbar werden.
Wie lässt sich die Inflation steuern?
Sobald die Inflation zu hoch wird, sollte die Zentralbank darauf reagieren und die Zinsen anheben. Somit geht die Nachfrage zurück: Wir nehmen weniger Kredite auf und der Konsum und die Investitionen wachsen langsamer, was dazu führt, dass das Preisniveau nicht mehr so stark ansteigt, und damit sinkt die Inflation. Im Gegensatz zur Schweiz haben die Zentralbanken in den USA und in der EU die Zinserhöhung aber viel zu lange vor sich hergeschoben. In den USA wurde die Dringlichkeit in den letzten Monaten erkannt, die Federal Reserve erhöht die Zinsen jetzt deutlich. Die Europäische Zentralbank ist immer noch zu zurückhaltend.
Unternimmt die Schweiz genug?
Die Schweizerische Nationalbank hat ihre Zinsen bereits erhöht, bevor die Inflation zu hoch wurde. Dies war ein wichtiger Schritt, und ich denke, dass im September nochmal ein deutlicher Zinsschritt folgt. Es ist wichtig, die Inflation nicht aus dem Ruder laufen zu lassen und dass sich die Geldpolitik mit dem Thema befasst. Sie ist für die Preisstabilität zuständig. Es gibt auch Ideen, dass man auf der fiskalpolitischen Seite Massnahmen ergreifen könnte, also die Steuern erhöhen, um die Nachfrage noch mehr zu drosseln und gleichzeitig an Haushalte mit geringerem Einkommen Transferzahlungen zu tätigen. Aber das ist nicht einfach umzusetzen und man müsste auch verteilungspolitische Entscheide treffen. Solche Massnahmen wären daher in der aktuellen Lage nicht angemessen. Solange die Geldpolitik in der Schweiz funktioniert, was sie zu tun scheint, sind wir noch lange nicht an dem Punkt, wo es fiskalpolitische Massnahmen benötigt, um die Nachfrage zu reduzieren.
Welche weiteren Instrumente gibt es noch, um die Inflation zu dämpfen?
Auf Schweizer Seite ist ein positiver Effekt, dass sich der Wechselkurs gegenüber dem Euro in den letzten Monaten aufgewertet hat und damit unsere Importgüter günstiger werden. Schweizerinnen und Schweizer haben rund 30 Prozent Importgüter in ihrem «Warenkorb» liegen. Dies dämpft auch für importierende Unternehmen die Preissteigerungen ihrer Einkaufspreise etwas ab. Auch die Kommunikation der Zentralbank ist ein wichtiges Instrument. Bei der Bekämpfung der Inflation ist das Vertrauen in die Nationalbank zentral. Sie muss klar und glaubwürdig kommunizieren, dass sie die Inflation senken wird.
Wieso ist das Vertrauen in die Nationalbank so zentral?
Unternehmen, die darauf vertrauen, dass die Nationalbank ihre Arbeit gut macht und die Inflation wieder senkt, erhöhen ihre Preise nicht übermässig. Wenn sie hingegen davon ausgehen, dass die Inflation noch weiter steigt, erhöhen sie ihre Preise mehr, um die erwartete Inflation vorwegzunehmen. Das generiert dann aber wiederum Inflation. Das sahen wir in den USA und in der EU. Die dortigen Zentralbanken haben zu lange nichts unternommen und Vertrauen eingebüsst, das sie nun mit oft wirtschaftlich schmerzhaften Zinserhöhungen wieder gewinnen müssen.
Wie kann sich die kantonale Politik einbringen?
Mir fällt auf, dass sich in den letzten Jahren eine Erwartungshaltung entwickelt hat bei den Kantonen, jährliche Ausschüttungen von der Nationalbank zu erhalten. Dieses Jahr wird es höchstwahrscheinlich nicht der Fall sein, weil die Nationalbank durch die Geldpolitik, die sie jetzt machen musste, Verluste schreibt. Aber das gehört zu ihrem Job, sie muss die Inflation stoppen und die Preisstabilität wieder herstellen. Gewinne oder Verluste sind dabei nur ein Nebenprodukt. Verluste bedeuten nicht, dass die Nationalbank etwas falsch macht. Es ist wichtig, dass die Nationalbank dieses Vertrauen in der Gesellschaft hat, denn sie ist kein Unternehmen und auch keine reguläre Bank, sondern hat die wichtige Aufgabe, das Geldsystem zu stabilisieren. Dieses Vertrauen sollte nicht durch fehlgeleitete Diskussionen zur Gewinnausschüttung untergraben werden.
Was würden Sie der Bevölkerung raten: Wie soll sie sich aktuell verhalten?
Die Inflation bei uns ist zwar noch nicht so hoch. Aber es ist sicherlich sinnvoll, wo möglich Energie zu sparen. So kann man seine persönliche Inflation nicht so stark werden lassen. Aber das ist einfach gesagt – auf gewisse Dinge wie Heizen kann man nicht komplett verzichten. Wenn jemand sehr viel Gespartes hat und sich darum sorgt, dass es durch die Inflation erodiert, könnten inflationsgeschützte Anleihen und Realwerte als Anlagemöglichkeiten in Frage kommen. Wir werden in ein paar Monaten sehen, wo wir bei der Inflation stehen. Ich hoffe, dass keine weiteren Schocks auftauchen, die Zentralbanken ihre Arbeit machen und wir den Höhepunkt der Inflation schon hinter uns haben.